Tagungsbericht: „Machen Medien mobil und stark? Überlegungen zu einer inklusiven Medienbildung“
Machen Medien mobil und stark? Ja, lautete die Antwort der Podiumsdiskutanten bei der gleichnamigen Fachtagung von medien+bildung.com und der Mosaikschule Ludwigshafen am 21. Juli 2014. Wenn sie zur Informationsbeschaffung und Kommunikation eingesetzt werden. Für letzteres sind gerade die neuen digitalen Medien von großer Bedeutung. Denn nun haben behinderte Menschen zum ersten Mal die Gelegenheit, sich selbst in der Öffentlichkeit zu äußern und ihr eigenes Bild von sich darzustellen, ohne immer nur von der Mehrheitsgesellschaft auf ihr Behinderungsmerkmal reduziert zu werden.
Die Auftaktveranstaltung zum inklusiven Medienprojekt „mobil+stark“ von medien+bildung.com fand in der Mensa der Mosaikschule in Ludwigshafen-Oggersheim statt, einer Förderschule mit Schwerpunkt motorische Entwicklung. Ziel der Veranstalter war es, Möglichkeiten einer inklusiven Medienbildung in der Schule und anderswo auszuloten. Gekommen waren Medienpädagog/innen, Lehrerinnen und Lehrer von Regel- und Förderschulen, Vertreter des pädagogischen Landesinstituts Rheinland-Pfalz und der Verbraucherzentrale, Eltern und Schüler/innen sowie Ehemalige. Den Gruß des Sozialministers Alexander Schweitzer und Schirmherrn des Projekts „mobil + stark – Medienbildung inklusiv“ überbrachte der Leiter des Referats Gleichstellung und Selbstbestimmung / Barrierefreiheit im Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demographie des Landes Rheinland-Pfalz, Michael Wahl. Er wies darauf hin, wie dringend geboten es sei, das Thema Inklusion mit Medien und Medienbildung eng zu verknüpfen, weil gerade in den modernen Technologien ungeheuer große Chancen zur digitalen Teilhabe für behinderte Menschen liegen. An seinem eigenen Beispiel machte er deutlich, welchen Gewinn an Lebensqualität und Erfahrungsreichtum er als blinder Mensch in Beruf und Freizeit habe - u. a. auch durch eine einfache App, die es ihm erlaubt, Filme zu rezipieren, indem er über Kopfhörer und über einen Text in Blindenschrift gleichzeitig den Inhalt und die Gestaltung des Films erzählt bekommt. Er erzählte von gelungenen Beispielen, wie Menschen mit einem bestimmten Handicap gerade auf Grund ihrer speziellen Behinderung in der Lage sind, besondere Kompetenzen zu entwickeln, die auch anderen wiederum besonders zugutekommen können. Das hatten auch die Schüler Salvatore und Narek bereits im Rahmen der vorausgegangenen Begrüßungsrede von Schulleiterin Birgit Bautz-Müller anschaulich mit ihrem Happy-Video vermittelt, in dem sie auf kreative Weise zeigten, wie auch Jugendliche mit körperlichen Einschränkungen in diesen Tanz- und Bewegungsfilm vielfältig und ideenreich eingebunden werden konnten.
„Es geht uns mit dieser Tagung und mit dem Projekt mobil+stark darum die kreativen Potenziale, die individuellen Stärken und Kompetenzen der jungen Menschen sichtbar zu machen“, sagte Katja Friedrich, Geschäftsführerin von medien+bildung.com in ihrer Begrüßungsrede. Deshalb habe man sich entschieden im weiten Feld der inklusiven Bildungsarbeit den Fokus auf die mediale Auseinandersetzung mit den Fragen "Was kann ich?" und "Wer bin ich?" und "Wie kann ich meine Stärken anderen zeigen?" zu setzen. Dies seien zentrale Themen jeder Lebens- und Lernplanung und somit auch der Berufsorientierung, deshalb habe medien+bildung.com die Methode „Stärken-Comic“ entwickelt. Dabei setze man besonders auf das Tablet, weil es intuitiv bedienbar sei und einen schnellen unkomplizierten Zugang zum Internet eröffne. Ausführlich wurde dieser Projektansatz in der AG von Katja Batzler (medien+bildung.com) und Nora Nax (Mosaikschule) am Nachmittag präsentiert und diskutiert.
Der Einführungsvortrag „Schule auf dem Weg zur Inklusion“ wurde gehalten von Ulrike Nax-Martin, der Stellvertretenden Leiterin des Staatlichen Studienseminars für das Lehramt an Förderschulen und langjährigen Lehrerin der Mosaikschule. Sie erläuterte den rheinland-pfälzischen Weg zur inklusiven Schule und zeigte die rechtlichen Grundlagen von Inklusion auf, wie z. B. Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes, in denen der Rechtsanspruch auf Gleichstellung und Gleichbehandlung aller ja bereits seit 1949 fest verankert ist. Dennoch habe es der UN-Konvention 2006 bedurft, um das Thema Inklusion und inklusive Schule in Deutschland noch einmal politisch voranzubringen.
Ulrike Nax-Martin verwies in ihrem Vortrag und in der anschließenden Podiumsdiskussion immer wieder darauf, dass der Weg zur gelingenden Integration und zum inklusiven Unterricht nur über die intensive Binnendifferenzierung und Heterogenität der pädagogischen Ansätze gehen könne. Nur so sei es möglich alle gemäß ihrer besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen zu fördern, zu motivieren und einzubinden.
Stefan Pfurtscheller, Leiter des Referats Medienkompetenz im Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz und Sprecher der GMK-Fachgruppe Inklusion moderierte die zentrale Podiumsdiskussion, die alle Teilnehmer/innen der Veranstaltung als das Highlight bezeichneten. Dies lag nicht zuletzt am guten Moderator, dem es gelang die sehr heterogen zusammengesetzte Diskussionsrunde miteinander ins Gespräch zu bringen, aber auch an den pointierten, unterhaltsamen und klugen Beiträgen des prominentesten Teilnehmers, an Raúl Krauthausen. Der sich selbst als Aktivist bezeichnende Gründer der „Sozialhelden“ und Erfinder der Webseite www.wheelmap.org setzte sich immer wieder dafür ein, das Thema nicht nur aus der Nicht-Behinderten-Perspektive zu diskutieren, sondern immer und überall die Betroffenen selbst mit einzubeziehen, in Planungen, Umsetzungen und Analysen. Mit der Webseite wheelmap.org und den dazu gehörenden Unterrichtsmaterialien für die Schule haben die Sozialhelden einen Handlungsrahmen geschaffen, der es erlaubt, sachorientiert und nicht moralisierend-lamentierend Behinderte und Nicht-Behinderte miteinander ins Gespräch zu bringen und gemeinsam an einer Lösung für bessere Infrastrukturen zu arbeiten.
Der Schüler Tim Kokl im Rollstuhl sitzend und sein Vater Peter Kokl zeigten sich begeistert von den Möglichkeiten des Internets und der Tablets. Damit seien die Kommunikationsmöglichkeiten von Tim enorm gestiegen und die Motivation, diese Medien selbständig zu nutzen und damit mehr Autonomie zu gewinnen, ebenfalls.
Norbert Schröder, Lehrer an der BBS Heinrich-Haus in Neuwied, einer Berufsbildenden Schule für junge Menschen mit Behinderungen jeglicher Art, konnte viele positive Anwendungsbeispiele vorstellen, die zeigten, wie die Handlungskompetenz seiner Schüler/innen durch den Einsatz von iPads im Unterricht und in der Prüfungsvorbereitung stark erweitert werden konnten. Er setzt sich intensiv dafür ein, dass private Smartphones und Tablets an Schulen zugelassen werden, da diese Geräte der Zugang zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen sei und Schule diese einzubeziehen hat.
Isabel Zorn, Professorin für Angewandte Sozialwissenschaften am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik der Fachhochschule in Köln, fokussierte immer wieder auf die Begrifflichkeiten, mit denen wir unreflektiert unsere Mitmenschen klassifizieren. Wann ist jemand behindert? Wenn er Hilfsmittel braucht, zum Beispiel eine Treppe, um die Podiumsbühne zu betreten? Wenn er eine klein geschriebene Textzeile von weitem nicht lesen kann, sondern dafür das Hilfsmittel Beamer oder Overheadprojektor braucht? Oder wenn er einen Rollstuhl zur Fortbewegung benötigt? Sie legte überzeugend dar, wie und warum Medien mobil und stark machen, und zwar alle Menschen, ganz gleich ob mit oder ohne Behinderung.
Alle waren sich einig, dass inklusives Leben mit Medien besser gestaltet werden kann, dass man dazu im dialogischen Prinzip gemeinsam produzierend, ausprobierend und experimentierend vorangehen müsse und es keine fertigen Rezepte gebe. Viele gute Ideen machten die Runde, so z. B. Raul Krauthausens Vorschlag, statt alljährlich stattfindender Bundesjugendspiele (oder ergänzend dazu) inklusiv gestaltete Medienproduktionstage anzubieten, in denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen ihren Kompetenzen gemäß mediale Projekte realisieren, sei es um ein Thema der Öffentlichkeit vorzustellen, sei es um gemeinsam etwas Kreatives zu schaffen, sei es um ein Problem einer Lösung zuzuführen, wie dies die wheelmap vormacht.
Zwei Workshop-Runden im Anschluss gaben den Teilnehmer/innen die Gelegenheit, sich in sieben „Sessions“ mit einzelnen Themen vertiefend zu beschäftigen, die eigenen Fragen loszuwerden und von den Erfahrungen der anderen zu profitieren:
- Schulentwicklung inklusiv am Beispiel der Mosaikschule (Birgit Bautz-Müller);
- Berufsbildung inklusiv am Beispiel der BBS im Heinrich-Haus Neuwied (Norbert Schröder);
- mobil+stark: inklusive Medienbildung (Katja Batzler, Medienpädagogin bei medien+bildung.com und Nora Nax, Lehrerin der Mosaikschule);
- Tableteinsatz in der inklusiven Bildung (Dr. Svenja Heck, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz);
- Erfahrungen aus verschiedenen Projektschulen „Medienkompetenz macht Schule“ in Rheinland-Pfalz (Stefan Pfurtscheller);
- Medienbildung für Autisten (Petra Hartensuer, SALO GmbH, Arbeitsmarktdienstleister mit den Schwerpunkten Berufliche Bildung und Katja Mayer, medien+bildung.com) und
- Durch Kommunikation mittendrin – Kommunikation ermöglicht Teilhabe! (Elfi Holländer, Kommunikationspädagogin, Beratung für Unterstützte Kommunikation Ludwigshafen).
Die Ergebnisse der Workshops wurden in der Schlussrunde im Plenum vorgestellt und von Professorin Isabel Zorn zusammenfassend kommentiert: wir brauchen Experimentierräume, wir brauchen die Ideen-Entwicklung von der Basis, wir brauchen den Mut für Neues, wir brauchen den Blick auf Gelingendes und nicht auf Behinderndes und wir brauchen Austauschmöglichkeiten, so wie diese Tagung sie geboten hat. Der Ball wurde sogleich aufgegriffen von Stefan Pfurtscheller. Er kündigte eine Veranstaltung des Pädagogischen Landesinstituts im November zum Thema an, an der sich auch medien+bildung.com beteiligen werde.
Das abschließende Speed-Dating zum Kennenlernen und Daten-Austausch fand während des leckeren Abschluss-Imbiss statt. Zahlreiche Visitenkarten wechselten die Besitzer/innen, Verabredungen wurden getroffen. Da saßen Raúl Krauthausen und sein Begleiter Andy Weiland schon wieder im Zug zurück nach Berlin. Auch er mit Verabredungen im Gepäck. Sein Besuch hat nicht nur bei den Tagungsteilnehmer/innen, sondern auch bei den Schüler/innen der Mosaikschule einen großen Eindruck hinterlassen. Ihnen hatte er vor Beginn der Veranstaltung Rede und Antwort gestanden im Rahmen einer Unterrichtsstunde und ihnen Mut und Zuversicht mitgebracht.